< Previous16 RESTAURIERUNGEN HISTORISCHER ORGELN IN HESSEN existierte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In Osthessen begründete Valentin Möller in Rotenburg/Fulda während des 19. Jahrhunderts über drei Generationen hinweg einen Orgelbaubetrieb. Er übernahm im Jahr 1855 die in Rotenburg bestehende Werkstatt Vogt/Bechstein. Sein Enkel August Möller schuf vornehmlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine hohe Anzahl von Um- und Neubauten. Im Jahr 1964 übernahm Dieter Noeske die Werk- statt. Sie firmiert heute unter dem Namen Orgelbauwerkstatt Rotenburg. Im Nordwesten Hessens war die Orgelwerkstatt Vogt tätig. Der Gründer, Jakob Vogt war Geselle bei der thüringischen Orgelwerkstatt Hesse aus Dachwig und machte sich anlässlich eines Orgelneubaus im Jahr 1845 in Korbach selbständig. Bis in das 20. Jahrhundert hinein prägte die Werkstatt Vogt über drei Generationen hinweg mit ihren Instrumenten das Waldecker Land und die angrenzenden Regionen. Die Orgelbauerfamilie Oestreich prägte von Oberbimbach und Bachrain aus mit ihren prägnanten, zumeist in die Breite gezogenen Orgelwerken insbesondere das Fuldaer Land. Johann Jost Oestreich begründete Mitte des 18. Jahrhunderts die Orgelbauerdynastie, die bis Ende des 19. Jahrhun- derts bestand. Mitglieder der Oestreich-Familie bauten zudem Instrumente im Westfälischen und durch Auswanderung auch in den USA. In Fulda selbst hatte sich Fritz Clewing im Jahr 1889, von Westfalen kommend, niedergelas- sen, wohin er im Jahr 1906 zurückkehrte. In dieser relativ kurzen Zeit baute Clewing bedeutende Instrumente für das Fuldaer Land. Im Jahr 1928 ließ sich Alban Späth als Leiter der Außenstelle des großen württembergischen Orgelbaubetriebs Späth in Mengen-Ennetach in Fulda nieder. Im Jahr 1957 löste sich die Fuldaer Niederlassung von der Heimatwerkstatt ab und wirkte bis etwa 1970 selbständig. Im oberhessischen Raum wirkte die Orgelbauerfamilie Bernhard. Johann Georg Bernhard gründete im Jahr 1770 in Romrod die über mehrere Generationen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts tätige Werkstatt, die ab 1861 in der dritten Generation in Gambach weitergeführt wurde. Weiter südlich in der Wetterau, in Nieder-Florstadt war in der Mitte des 18. Jahr- hunderts der Schulmeister und Orgelmacher Johann Friedrich Syer tätig, der in die hier und im Raum Main-Kinzig verzweigte Orgelbauerfamilie Zinck eingeheiratet hatte. Sein Geselle, Johann Conrad Bürgy, heiratete dessen Tochter Margarete, siedelte im Jahr 1763 nach (Bad) Homburg über und gründete dort eine eigene Werkstatt. Sie hatte über zwei Generationen hinweg Bestand und baute bedeutende Orgelwerke in der Region. Einer der Söhne, Johann Georg, heiratete im Jahr 1809 die Tochter des Orgelbauers Johann Peter Rühl in Gießen und führte die dortige Werkstatt weiter. Rühl 17 ORGELDENkmALpfLEGEIN HESSEN wiederum hatte bereits im Jahr 1789 die Tochter des Orgelbauers Johann Andreas Heinemann geheiratet und dessen Gießener Werkstatt übernom- men. Heinemann war zunächst in Laubach und dann in Gießen ansässig und baute ab 1747 einige bedeutende Orgelwerke. Er erhielt im Jahr 1766 das Orgelbauerprivileg für Hessen-Darmstadt. Ein Geselle aus der Werk- statt Bürgy, Daniel Raßmann, ließ sich ab 1818 in Weilmünster nieder und eröffnete dort eine eigene Werkstatt. Im Jahr 1840 verlegte er sie nach Möttau, wo sie von den Söhnen weitergeführt und im Jahr 1896 von August Hardt übernommen wurde. Die Werkstatt Hardt wird heute in der vierten Generation weitergeführt. Auch im oberhessischen Lich findet sich eine noch bis heute bestehende, für die hessische Orgellandschaft bedeutende Orgeltradition. Schon im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert war hier Georg Wagner tätig, dessen erhaltene Instrumente zu den ältesten in Hessen gehören. In der Nachfolge der Gießener Werkstatt von Johann Georg Bürgy gründete Johann Georg Förster im Jahr 1842 in Lich eine eigene Orgelwerkstatt. Karl Nicolaus heiratete im Jahr 1889 in den Betrieb ein, seitdem firmiert die Licher Werkstatt unter dem Namen Förster & Nicolaus. Sie existiert mit Inhabern aus dem eigenen Mitarbeiterstamm noch heute. Eine weitere schaffensreiche Werkstatt war die der Familie Ratzmann in Gelnhausen. Der aus Thüringen stammende Wilhelm August Ratzmann ließ sich im Jahr 1841 in Gelnhausen nieder und gründete dort eine eigene Werkstatt. Über drei Generationen hinweg baute die Werkstatt Ratzmann eine Vielzahl von Instrumenten. Sie wurde im Jahr 1921 von Richard Schmidt übernommen. Heute wird sie von Andreas Schmidt in der dritten Generation weitergeführt. Für die süd- und mittelhessische Orgellandschaft des 18. Jahrhunderts waren die in Frankfurt ansässigen Werkstätten Wegmann und Köhler von hoher Bedeutung. Johann Conrad Wegmann gründete im Jahr 1732 eine Werkstatt in Frankfurt und erhielt das Privileg für die Grafschaft Katzen- elnbogen. Johann Christian Köhler heiratete im Jahr 1739 nach Wegmanns Tod dessen Witwe und übernahm die Wegmannsche Werkstatt. Köhler erhielt zudem die Titel des Hoforgelbauers für Hessen-Darmstadt und Nassau-Usingen. Köhler baute bis 1760 viele bedeutende Instrumente auch über die hessischen Gebiete hinaus. Die Frankfurter Werkstatt wurde danach kurz von Philipp Ernst Wegmann, dann aber unter den Orgelbauern Meynecke bis in das erste Viertel des 19. Jahrhunderts weitergeführt. Einige Jahrzehnte später erlangte die Orgelbaufamilie Voigt eine hohe Bedeutung. Von Igstadt bei Wiesbaden aus errichtete der ursprünglich aus Sachsen stammende Christian Friedrich Voigt, der zuvor als Geselle in der 18 RESTAURIERUNGEN HISTORISCHER ORGELN IN HESSEN Werkstatt Dreymann in Mainz gearbeitet hatte, ab 1835 zahlreiche Orgeln. Er wurde in den über 30 Jahren seiner Tätigkeit zu einem der angesehensten Orgelmacher in Nassau. Die Werkstatt wurde von seinen beiden Söhnen unter dem Namen Gebrüder Voigt bis 1888 weitergeführt. Die dritte und vierte Generation führte die Orgeltradition der Familie Voigt ab 1903 in Unterliederbach bei Frankfurt bis in die 1960er Jahre weiter. Ein weiterer Orgelbauer, der den südhessischen Raum mit seinen Instrumenten prägte, war Georg Christian Rothermel. Rothermel arbeitete bei Gottlieb Dietz in Zwingenberg und übernahm mit der Heirat der Tochter im Jahr 1842 die Werkstatt. Im Jahr 1866 erwarb er den Titel des Darmstädter Hoforgel- bauers. Sein Sohn Gottlieb führte die Werkstatt bis in das erste Viertel des 20. Jahrhunderts weiter. Auch die Orgelbauerfamilie Dauphin soll hier Erwähnung finden. Johann Christian Dauphin, der in der bedeutenden Werkstatt Wender in Mühlhausen/Thüringen lernte, ließ sich im Jahr 1710 in Kleinheubach nieder und betreute seitdem die Orgelwerke in der Grafschaft Erbach. Die Kleinheubach Werkstatt bestand über drei Generationen und baute im 18. Jahrhundert im Darmstädter Land und im Odenwald qualitätvolle Orgelwerke. Der Name Dauphin taucht jedoch auch in Osthessen auf. Der Bruder von Johann Christian, Johann Eberhard Dauphin ließ sich um 1710 in Iba bei Bebra nieder und schuf in seinem Umfeld in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenfalls einige Orgelwerke. Durch die zentrale Lage Hessens lässt sich auch der Einfluss der Nach- barregionen gut darstellen. Über den Zuzug einzelner Orgelbauer hinaus, wie oben an den Beispielen Ratzmann oder Voigt aufgezeigt, wird in den verschiedenen hessischen Regionen auch der Austausch und das Wirken von Werkstätten aus benachbarten Gebieten deutlich: So macht sich der mainfränkische Einfluss beispielsweise durch Instrumente der Werkstatt Schlimbach aus Würzburg bemerkbar, im Südwesten und Westen Hessens finden sich Orgeln der Werkstätten Dreymann aus Mainz, Schöler aus (Bad) Ems sowie Stumm aus Rhaunen-Sulzbach. Insbesondere in Osthessen wirkten auch Orgelwerkstätten aus Thüringen, so Hilpert aus Floh bei Schmalkalden, Knauf aus Gotha oder Eifert aus Stadtilm. Im Zuge der Industrialisierung komplettieren die großen und renommierten Orgelfirmen Walcker aus Ludwigsburg, Weigle aus Echterdingen bei Stuttgart, Klais in Bonn, Steinmeyer in Oettingen, Voit in Durlach und die in Frankfurt (Oder) ansässige Orgelfirma Sauer im ausgehenden 19. und dann im 20. Jahr- hundert den Strauß der in Hessen tätigen Orgelwerkstätten.19 ORGELDENkmALpfLEGEIN HESSEN Diese kurze Darstellung der Orgelgeschichte Hessens kann nur eine unvollständige Auswahl einiger wichtiger Orgelwerkstätten aufzählen. Viele andere Namen kleiner, lokal ansässiger Werkstätten müssten ebenfalls genannt werden. Eine Gesamtdarstellung der hessischen Orgelbauge- schichte, die den Beitrag des Orgelbaus zur Kulturgeschichte des Landes beschreibt und würdigt, liegt bis heute nicht vor und wäre sehr wünschens- wert.7 Innerhalb des großen Umfangs von Instrumenten aus den vergangenen Jahr- hunderten gilt es für die Denkmalpflege insbesondere auch jüngere, bedeutende Orgeln aus den 1960er und 1970er Jahren in den Blick zu nehmen, die zum Teil noch neobarock orientiert sind, aber auch bereits darüber hinausweisen. Hierfür stehen im Förderprogramm exemplarisch die Bosch-Orgel der Albert-Schweit- zer-Schule in Kassel aus dem Jahr 1954, die als Installation innerhalb eines Gesamtkunstwerks mit Bildprogrammatik in die Wand der Aula integriert ist, 8 sowie die im Jahr 1964 ursprünglich für die Kasseler Martinskirche gebaute Orgel derselben Werkstatt, die im Jahr 2015 in die katholische Kirche St. Elisabeth in Kassel übertragen wurde.9 Etwas jünger ist noch das programmatische Instrument in der Kirche Cantate Domino in Frankfurt aus der Werkstatt Ahrend & Brunzema aus Leer von 1970. Aber auch die im Jahr 1972 von Gerald Woehl gebaute Orgel in Bottendorf bei Frankenberg (Eder) war für ihre Zeit wegweisend. Instrumente der oben genannten und ungenannten Orgelwerkstätten finden sich in dem Katalog, der den Kern dieser Publikation bildet. So gibt diese Schrift mit der Beschreibung einzelner Instrumente einen Überblick über die hessische Orgellandschaft, der jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Immer wieder werden meist im ländlichen Raum noch unbekannte, oft vergessene Orgel- schätze entdeckt. Hinsichtlich der Erbauungszeit ergibt sich für die historische Orgellandschaft in Hessen ein deutlicher Schwerpunkt von Instrumenten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Dies hängt sicher nicht allein mit der Entstehung der großen, überregional tätigen Orgelfirmen zusam- men. Es ist auffallend, dass gerade die lokal ansässigen Werkstätten in jener Zeitspanne eine hohe Produktionstätigkeit aufweisen und damit das kirchen- musikalische Umfeld nachhaltig mit ihren Instrumenten prägen. 7Cf. Krystian Skoczowski, Zum Stand der Erforschung der Orgellandschaft Hessen, siehe S. 9. 8Siehe Seite 185. 9Siehe Seite 187.20 RESTAURIERUNGEN HISTORISCHER ORGELN IN HESSEN Der Umstand, dass in das gemeinsame Restaurierungsprogramm in geringerem Umfang Maßnahmen an Instrumenten des 17. und 18. Jahrhunderts Eingang fanden, bedeutet nicht unmittelbar, dass Orgeln aus diesem Zeitraum in nur geringer Anzahl erhalten sind. Viele von diesen Instrumenten waren jedoch bereits in den letzten Jahrzehnten durchgreifend restauriert worden, so dass heute keine Notwendigkeit für eine umfassende Überarbeitung mehr besteht. Mitunter steht hier in Einzelfällen bereits eine Restaurierung der Restaurierung an. Die geringere Anzahl der Restaurierungen von Orgelwerken aus der zwei- ten Hälfte des 20. Jahrhunderts hängt wiederum damit zusammen, dass diese bisher – oft zu unrecht – kaum im Fokus der Erhaltungswürdigkeit standen. Besonderes Augenmerk verdienen diejenigen Instrumente, die sich außerhalb von Kirchenräumen befinden. So konnten über das gemeinsame Restaurierungs- programm beispielsweise die Restaurierung von fünf Orgeln in Schulen angescho- ben und gefördert werden. Hier ist besonders die bereits oben erwähnte Orgel der Albert-Schweitzer-Schule in Kassel zu nennen mit ihrer künstlerischen Integration in eine bemalte Wand. Andere Instrumente, wie beispielsweise die Orgel der Elly-Heuss-Schule in Wiesbaden10 oder diejenige der Winfriedschule in Fulda11 verzichten ganz auf einen Prospekt. Um der besonderen Eigenschaft der historischen Orgelwerke als Klangdenkmale Rechnung zu tragen und diese zu dokumentieren, wurden drei CDs an Orgeln eingespielt, die im Rahmen des gemeinsamen Programms gefördert worden waren. So dokumentieren die Tonträger jeweils Instrumente der Werkstätten Ratzmann aus Gelnhausen und Euler aus Gottsbüren. Die dritte CD vereint eine Auswahl von restaurierten Orgelwerken der Epoche des Barock. Präsentiert werden die Instrumente mit zeittypischen, ihrem zumeist ländlichen Rahmen entsprechenden Musikstücken. Gerade der klangliche Bereich ist ein Aspekt, welcher die Orgeldenkmalpflege grundsätzlich von der Restaurierung von Gebäuden oder anderen Gegenständen in der Bau- und Kunstdenkmalpflege unterscheidet: Ist die Erhaltung und Restaurierung einer Orgel in den Bereichen Gehäuse und Technik in den materiel- len Gegebenheiten unter der Berücksichtigung der denkmalfachlichen Standards 10Siehe Seite 345. 11Siehe Seite 149.21 ORGELDENkmALpfLEGEIN HESSEN zumeist klar und praktisch handhabbar, so berührt der klangliche, musikalische Bestandteil, das Pfeifenwerk, darüber hinaus noch einen anderen Gesichtspunkt, nämlich das Wesen der Orgel als Musikinstrument. Musikinstrumente sind temporäre Tonträger, denn sie erklingen nur innerhalb einer bestimmten Zeit, während ihrer Bedienung durch einen Spieler oder Inter- preten. Damit sind sie in der Regel einem steten Wechsel von Erklingen und Nicht- Erklingen unterworfen. Diese Eigenschaft unterscheidet Musik grundsätzlich von der dauerhaft erlebbaren Architektur. Diese ist gestalteter, in materialer Konkretion erfahrbarer Raum. Daraus ergibt sich eine für die Orgeldenkmalpflege spezifische und komplexe Fragestellung: Wie lässt sich der immaterielle Wert von Tönen und Klängen dauerhaft und möglichst objektiv konservieren? Wir kennen zwar die grundsätzlichen Parameter der Klangvorstellungen früherer Epochen, eine zeitgenössische Interpretation kann sich diesen jedoch immer nur annähern. Waren in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere Restaurierungen von Orgeln des 19. Jahrhunderts im Fokus, so ist dies auch im Zusammenhang mit der Aufführung romantischer Orgelmusik zu sehen. In der Konzeption der Restau- rierungen wurde dabei zunächst Wert auf die Erhaltung des Pfeifenwerks dieser Epoche gelegt. Später erkannte man auch die Bedeutung der dazu gehörigen Registerkanzellenladen und schließlich der pneumatischen Traktursysteme. Heute hat sich in der Restaurierungspraxis die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich das Klangergebnis aus dem Zusammenwirken von allen spieltechnischen, winderzeu- genden und klangbildenden Bestandteilen ergibt. Aufgrund dieser Einsicht werden daher heute vermehrt auch verloren gegangene Spielsysteme rekonstru- iert, um ein möglichst authentisches Klangbild zu erhalten. Während die Erhaltung romantisch geprägter Orgeln inzwischen gut begründet und vermittelt werden kann, stehen vielerorts die jüngeren Instrumente der Nach- kriegs- und Wirtschaftswunderzeit zur Disposition. Es sind heute die Orgelwerke der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts mit ihrer neobarocken Klanggestalt, häufig mit damals modernen Materialien wie Kunststoffen, Aluminium und ande- ren Metallen gebaut, die in Musikerkreisen (noch) wenig geschätzt und deshalb oftmals verändert oder gänzlich ausgetauscht werden. Dadurch liegt heute der Schwerpunkt der Orgeldenkmalpflege gerade in der Vermittlung der Wertigkeit jener Instrumente, um so zu Ihrer Erhaltung beizutragen, denn sie sind gleicher- maßen Zeugnisse der Orgelbaukunst ihrer Zeit.22 RESTAURIERUNGEN HISTORISCHER ORGELN IN HESSEN Leider werden diese Instrumente auch heute noch allzu oft mit dem Verweis auf schwierige klangliche Gegebenheiten, mangelnde Reparaturfähigkeit oder minderwertige Materialien aufgegeben. Langsam wächst aber auch in den jünge- ren Organistengenerationen ein Bewusstsein für die neobarocken Orgeln. Wieder ist es zuerst die Literatur jener Zeit, die nun interessant wird und in den Blick- punkt rückt. Um die Musik adäquat aufführen zu können, werden in der Folge gut erhaltene, zeittypische Instrumente gesucht. Es wird noch einige Jahre dauern, bis sich dieser Trend auf breiter Basis durchsetzt und neobarock geprägte Orgeln in dem Maße anerkannt sein werden wie heute die historischen romantischen Orgeln. Deshalb ist es umso erfreulicher, dass über das gemeinsame Orgelrestau- rierungsprogramm auch Maßnahmen an einigen Orgeln aus der Zeit des Wirt- schaftswunders gefördert werden konnten. Neben den oben genannten Orgeln in Kassel ist hier auch die herausragende Link/Bornefeld-Orgel der evangelischen Markuskirche in Offenbach von 1962 zu nennen. 12 Wie in allen Gebieten der Bau- und Kunstdenkmalpflege gehört auch zur Erhal- tung historischer Orgeln das Wissen um die Konservierung und Restaurierung der verschiedenen Konstruktionsformen und Materialien. Waren es bei der Restaurie- rung von romantischen Orgeln die Erkenntnisse über Funktionsweise und Technik der Kegel-, Taschen- oder Membranladen, so sind es nun bei den neobarocken Instrumenten der Umgang mit Seilzugtrakturen, Aluminium- und Kunststoffbau- teilen sowie die Wertigkeit von Zink- und Kupferpfeifen im Kontext der Gesamt- ästhetik, die neu vermittelt und zugänglich gemacht werden müssen. Vielerorts wird die Verwendung von spitzengelagerten Winkeln und Wellen (sog. „Wiener Kapseln“), von Pertinaxschleifen oder Aluminiumventilen erst einmal als minder- wertig angesehen. Dabei haben die so ausgestatteten Instrumente mancherorts schon über 70 Jahre ihren Dienst getan, und mögliche Unzulänglichkeiten sind vielmehr auf eine mangelnde Wartung oder eine fehlende Reinigung zurückzu- führen. Hier gilt es für die Zukunft, Aufklärungsarbeit zu betreiben und Methoden zu erarbeiten, wie unter restauratorischen Gesichtspunkten historische elektrische Trakturen dauerhaft erhalten und für die Zukunft gesichert werden können. Es wäre zu wünschen, dass aus der Erkenntnis der Rückschau frühzeitig ein Bewusst- sein hierfür erwächst und die Fehler der Vergangenheit im Umgang mit histori- schen Orgelwerken vermieden werden können. Eine weitere Anforderung für die kommende Generation in der Orgeldenkmalpflege wird schließlich sein, sich mit 12Siehe Seite 241.23 ORGELDENkmALpfLEGEIN HESSEN der Erhaltung der symphonisch orientierten Orgeln auseinanderzusetzen, die bereits ab der Mitte der 70er, insbesondere aber in den 80er Jahren des vergan- genen Jahrhunderts die neobarocken Instrumente ablösten. Das erste Primat der Denkmalpflege ist die Erhaltung historischer Substanz. Dieses Grundprinzip, das bereits im Jahr 1964 in der Charta von Venedig fixiert wurde, hat bis heute Gültigkeit, sei es bei einem Gebäude, einem Kunstwerk oder eben bei einer Orgel. Hier betrifft dieses Prinzip sowohl das Gehäuse als auch die Technik und den Klangkörper. Gerade hinsichtlich des Klangs ist dies jedoch komplex: Wie kann der ursprüngliche Klang als ephemere, zeitgebundene Eigenschaft eines Musikinstruments konserviert oder wiederhergestellt werden? Die heute zur Verfügung stehenden Methoden zum Erkennen der Klangeigen- schaften einer einzelnen Pfeife, eines Registers und in Summe des gesamten Pfeifenwerks machen zumindest eine Annäherung möglich. Substanzerhaltung ist für Materialien des traditionellen Orgelbaus wie Holz oder Leder einfacher zu vermitteln als bei moderneren Materialien wie Kunststoffen, Aluminium oder gar elektrischen Komponenten. Dazu ist es notwendig, im Dialog mit Orgelsachver- ständigen und Orgelwerkstätten Methoden zur Erhaltung der jeweils spezifischen Substanz zu erarbeiten und in diesem Sinne die Geschichte der Orgeldenkmal- pflege fortzuschreiben. Letztendlich geht es darum, die Vielfalt der verschiedenen, für die jeweilige Epoche typischen und stilprägenden Instrumente für die Zukunft zu bewahren, damit sie der Nachwelt erhalten bleiben und auch nachfolgende Generationen die Möglichkeit haben, an ihnen zeittypische Bauweisen und Klang- eigenschaften zu erfahren. Diese Vielfalt wird bereits anhand der vorliegenden Zusammenschau deutlich, obwohl sie nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Instrumenten der reichen Orgellandschaft in Hessen darstellt. Es bleibt zu wünschen, dass das gemeinsame Förderprogramm auch künftig Restaurierungen historischer Orgeln unterstützen kann, um so zur Erhaltung und Pflege dieses wichtigen Kulturguts beizutragen.25 OrgeldenkmalpflegeimBistumFulda VON MARTIN MATL 1Cf. Michael Christian Müller/Forum zur Bewahrung und Entwicklung des Orgelkulturerbes e. V., Inventarisatorische und konservatorische Grundlagen der Orgeldenkmalpflege, in: Inventarisation und Pflege des kirchlichen Kunstgutes. Verlautbarungen und Dokumente, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen; 228), Bonn 2008, S. 95–101. Bei der Betrachtung der Orgel als denkmalpflegerisches Objekt bedarf es eines Blickes auf ihre besondere Eigenschaft als Denkmal zwischen der Welt des materiell Greifbaren und des immateriell Klanglichen. Als Musikinstrument wirkt die Orgel im Ungegenständlichen, und so sind Orgelbau und Orgelmusik seit dem Jahr 2017 als immaterielles Kulturerbe der Menschheit von der UNESCO einge- tragen und anerkannt. Jede Orgel ist im denkmalpflegerischen Bereich somit aus mindestens drei Blickwinkeln zu betrachten: als Klangdenkmal und Musikinstru- ment, als Orgelwerk und technisches Denkmal mitsamt seiner diffizilen Apparatur mechanischer und elektrischer Bauteile sowie schließlich als Teil eines Baudenk- mals mit seiner visuellen Bedeutung im Kirchenraum.1 Um dieser Komplexität gerecht zu werden, werden Bau- und Restaurierungs- maßnahmen an Orgeldenkmalen im Bistum Fulda baufachlich von der Abteilung Bauwesen und Immobilien sowie orgelspezifisch von der Fachstelle Glocken und Orgeln im Generalvikariat begleitet. Sowohl im Kontext größerer Gesamt- sanierungen wie auch im speziellen Orgelprojekt werden die bautechnischen und vermögensrechtlichen Genehmigungsverfahren entsprechend der Bauordnung und des Kirchenvermögensverwaltungsgesetzes von der Abteilung für Bauwesen und Immobilien durchgeführt. Die fachliche Bewertung und Entscheidungsfindung von Restaurierungsmaßnahmen am Orgelgehäuse werden vom Regionalbetreuer der Bauabteilung koordiniert und mit dem Diözesankonservator abgestimmt. Die orgeltechnischen und klanglichen Aspekte werden vom Orgelsachverständigen des Bistums und seiner Fachstelle bearbeitet. Insbesondere bei der Koordination von Konzepterstellung und Maßnahmendurchführung werden auch die Regional- kantoren einbezogen, die mit den örtlichen Kontexten und den jeweiligen Orgeln vertraut sind. Next >