< Previous6 RESTAURIERUNGEN HISTORISCHER ORGELN IN HESSEN Grußwort „D ie orgl ist doch in meinen augen und ohren der könig aller instrumenten.“ – schrieb Wolfgang Amadeus Mozart am 17. Oktober 1777 an seinen Vater. Mozart begründet die Vormachtstellung der Orgel als „König aller Instrumente“ sowohl mit ihrer visuellen als auch mit ihrer akustischen Wirkung. Er bringt damit zum Ausdruck, dass die Orgel mit ihrem kunstvollen Gehäuse untrennbar zur Ausstattung unserer Kirchenräume gehört – Orgeln sind architektonische Elemente, ihr Resonanzraum ist der Kirchenraum. Nur im Zusammenspiel von Orgelprosekt und Klang ist das sinnliche Erleben der Königin aller Instrumente möglich. Dies trifft exakt den Kern und das Ziel unseres Orgelrestaurierungs- programms, mit dessen Hilfe wir seit 2001 gemeinsam mit der Sparkassen- Kulturstiftung Hessen-Thüringen die Restaurierung von bisher 172 wertvollen historischen Orgeln in 21 hessischen Landkreisen mit 20 % der Gesamtkosten fördern. Orgeln sind Unikate, seit jeher werden sie speziell für den Kirchenraum geschaf- fen, in dem sie gespielt werden. Ihre individuelle Klangqualität ergibt sich aus den Anforderungen der Investoren an das Instrument und ist das Ergebnis eines raffinierten technischen Mechanismus, der dem Luftstrom Zugang zum Pfeifen- werk eröffnet. Orgeln zeugen also nicht nur durch ihre Gestalt und ihre Klang- qualität von den Vorstellungen ihrer Auftraggebenden, sie sind auch hoch- komplexe technische Denkmäler von hoher handwerklicher Qualität. Vor ganz neue Herausforderungen stellen uns derzeit die mittlerweile restaurierungs- bedürftigen Orgelwerke der Nachkriegszeit, denn aufgrund ihrer zeittypischen Klangfarbe und ihrer Materialität erfordern sie besondere Erhaltungskonzepte. Für uns ist es immer wieder ein bewegender Moment, wenn wir im Rahmen unse- rer jährlichen Pressereise anlässlich der Überreichung der Bewilligungsbescheide erleben, wie die Menschen vor Ort sich für die Pflege und den Erhalt „ihrer“ Orgeln einsetzen. Aktuell gerät die Praxis des Orgelspiels allerdings durch den massiven Gemeindegliederschwund in beiden großen Kirchen zunehmend in Gefahr. Schon 2017 hat die UNESCO Orgeln und Orgelmusik als Beispiel einer über Jahrhunderte 7 GRUSSwORT von Fachleuten aus dem Bereich des Handwerks und der musikalischen und liturgischen Praxis entwickelten, hochspezialisierten Kulturtechnik in die Liste des immateriellen Kulturgutes aufgenommen. Auch die vorliegende Publikation soll dazu beitragen, das öffentliche Bewusstsein für diese einzigartigen Zeugnisse eines komplexen, regional häufig sehr unterschiedlich ausgeprägten Erfahrungswissens zu schärfen. Mein Dank gilt allen Autoren, die mit ihren Texten dazu beigetragen haben, den besonderen Facettenreichtum und die Bedeutung von Orgeln für unsere Kulturlandschaft in Hessen zu beleuchten. Ohne das Engagement der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, aber auch ohne die Fachleute aus den Landeskirchen und Diözesen wäre es weder möglich gewesen, in jedem Jahr sechs bis acht histori- sche Orgeln zu fördern, noch diese Publikation zu erstellen. Gemeinsam hoffen wir, dass Orgeln auch weiterhin als Zeugnisse von Kreativität und Erfindungsgeist ganzheitlich wahrgenommen, gespielt, gepflegt und für nachfolgende Generationen erhalten werden können. PROF. DR. MARKUS HARZENETTER Präsident des Landesamts für Denkmalpflege Hessen9 ZUm STANDDER ERfORSCHUNGDER ORGELLANDSCHAfT HESSEN Zum Stand der Erforschung der Orgellandschaft Hessen VON KRYSTIAN SKOCZOWSKI Die Gesamtheit der Orgeln auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen wurde in der organologischen Literatur bisher nicht als kunstgeschichtliche Einheit beschrieben. Der Grund hierfür mag in der Vielfalt ihrer musikalischen und gestalte- rischen Eigenschaften, also in ihrer fehlenden baulichen Einheitlichkeit liegen, ebenso im Fehlen von ganze Epochen und Landschaften prägenden Werkstätten und Persönlichkeiten, wie man dies aus anderen Regionen kennt. Oft wird auf die vergleichsweise kurze Geschichte des heutigen Hessens und seine bis ins 19. Jahr- hundert währende, starke territoriale Gliederung verwiesen, um seine kulturelle Vielfalt zu erklären. Die Trennlinien, die bis dahin für die Entstehung einer so viel- fältigen Orgellandschaft wirksam waren, stimmen tatsächlich oft mit den histo- rischen Territorialgrenzen überein, insofern diese auch konfessionellen Grenzen entsprachen, vor allem zwischen katholischen und evangelischen Herrschaften, zum Teil aber auch innerhalb der letzteren Gruppe zwischen reformierten und lutherischen Gebieten. Gleichzeitig können in vielen Bereichen der Kunst und damit auch des Orgelbaus kulturelle Gemeinsamkeiten benachbarter Territorien gleicher Konfession über die früheren und heutigen Landesgrenzen hinaus festgestellt werden. Die historischen Grenzen zwischen den Landesteilen des heutigen Bundeslandes wirkten auch in der organologischen Forschung der vergangenen Jahrzehnte fort. Franz Bösken (1909–1976), Hermann Fischer (1928–2020) und mit ihnen Matthias Thömmes (1932–2017) erforschten die Gebiete des ehemaligen Regierungsbezirks Wiesbaden und der früheren Provinz Oberhessen des Großherzogtums Hessen. Sie erstellten Inventare, in denen nach Orten geordnet die Geschichte bestehender und früherer Instrumente in ihren Gebäuden vorgestellt und die Quellen benannt werden. Hans Martin Balz (*1940) arbeitete in ähnlicher Weise an der Orgelgeschichte der ehemaligen Provinz Starkenburg. Sein Inventar enthält auch einen ausführ- lichen historischen Abriss, der die in seiner Forschungsregion tätigen Orgelbau- werkstätten vorstellt. Gottfried Rehm (1926–2020) erstellte Inventare historischer und bestehender Orgeln in den Kreisen Fulda und Schlüchtern. Die drei von Marburg aus tätigen Organologen Dieter Großmann (1921–1997), Eckhard Trinkaus 10 RESTAURIERUNGEN HISTORISCHER ORGELN IN HESSEN (1938–2000) und Gerhard Aumüller (*1942) hatten vornehmlich die nördlichen kurhessischen Landesteile im Blick. Mit Ausnahme des früheren Kreises Ziegenhain (Eckhard Trinkaus) erstellten sie aber keine regionalen Inventare, sondern arbeiteten weit überwiegend monographisch zu einzelnen Instrumenten oder Werkstätten in begrenzten historischen Zeiträumen. Ferdinand Carspecken (1915–2003) erstellte eine Orgelgeschichte der Stadt Kassel. Alle diese Arbeiten gründen auf Quellenstu- dien, deren Schwerpunkt in den 1960er und 1970er Jahren lag. Die Veröffentlichung der Inventare erfolgte zwischen den Jahren 1969 und 1988. Über die Fülle und den Umfang der genannten und weiterer Literatur zu Orgeln und Orgelbauern in Hessen gibt das beigefügte Verzeichnis Auskunft.1 Trotz der mit den Jahren schwindenden Aktualität der Bestandsaufnahmen sind die Arbeiten für die Einordnung der Orgelgeschichte Hessens in seine Kunstgeschichte von größtem Wert. Inventarisiert sind aber nur die südliche Hälfte des Bundeslandes – mit Ausnahme des größten Teils des Main-Kinzig-Kreises – und der erwähnte frühere Kreis Ziegenhain. Es bestehen also noch enorme territoriale Lücken. Insgesamt weisen die Arbeiten große Unterschiede in Umfang, Methoden und Gründlichkeit der Recherche sowie praktischer Handhabbarkeit auf. Während sich Böskens und Fischers Veröffentlichungen grundsätzlich auf eigene Archivstudien stützten, arbeitete Balz zum Teil auch mit Fragebögen und Rehm mit telefonischen Auskünften. 2 Trotz der hohen Informationsfülle der Veröffentlichungen zu den ehemals kurhessischen Landesteilen sind ihre Erkenntnisse wesentlich schwerer zu suchen und aufzufinden als die nach Orten und Personen indizierten Inventare. Die organologische Forschung hat sich seit den 1990er Jahren tendenziell von historischen Fragestellungen ab- und systematischen Schwerpunkten zugewendet. Besonders in Hessen fällt auf, dass die territoriale Erfassung der Orgelgeschichte abgebrochen und durch monographische Untersuchungen einzelner Personen oder Sachfragen abgelöst wurde, während gleichzeitig die organologische Arbeit insgesamt abnahm. Damit geht bis heute eine gewisse Veralterung der in den wissenschaftlichen Arbeiten der aktiveren Jahre gewonnenen Daten einher, da die Orgellandschaft auch in der unmittelbaren Vergangenheit durch Renovierung, Restaurierung, Umbau und Neubau einem ständigen Wandel unterworfen war und dies bis heute ist. 3 1Siehe S. 387 2Beide machen die in der beschriebenen Art gewonnenen Daten kenntlich, so dass der Leser die Zuver- lässigkeit der Information einschätzen kann und ihm der Weg zu den Primärquellen gewiesen wird. 3Bei einer Orgel kann aufgrund Generationen übergreifender Erfahrung mit einem Zyklus umfassen- der Reinigungs- und Überholungsarbeiten von 20 bis 30 Jahren ausgegangen werden.11 ZUm STANDDER ERfORSCHUNGDER ORGELLANDSCHAfT HESSEN An dieser Entwicklung hat die in den vergangenen Jahrzehnten schwindende Bedeutung der Orgel für die zeitgenössische Praxis der katholischen und der evangelischen Kirchenmusik großen Anteil. Obwohl das Instrument spätestens seit dem 19. Jahrhundert auch im nicht-christlichen und nicht-religiösen Raum häufiger exponiert anzutreffen ist, wird es dennoch bis heute vielfach christlich- religiös konnotiert wahrgenommen. Daher trägt die zurückgehende Bedeutung des Christlichen und grundsätzlich des traditionell Religiösen in den europäisch geprägten Kulturen gleichfalls zu einer Verringerung des künstlerischen und wissenschaftlichen Interesses an der Orgel und seiner Geschichte bei. Die Bedeutung von Inventaren als Grundlage für die Arbeit der Denkmalpflege ist unstrittig. In anderen Ländern wie zum Beispiel in Frankreich und der Schweiz wurde die Bedeutung historischer Inventare für den Erhalt von Orgeln als Kultur- gut bereits in den 1980er Jahren erkannt und die Inventarisierung seitdem ideell, strukturell und finanziell gefördert. In Deutschland bleibt sie weitgehend dem Idealismus einzelner Orgelforscher überlassen. Leider hat auch die Aufnahme des deutschen Orgelbaus und der Orgelmusik in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes im Jahr 2017 an dieser Situation bisher nichts geändert. Seit mehre- ren Jahren schließen die wichtigsten Stiftungen zur Wissenschaftsförderung in Deutschland Inventarisierungsprojekte kategorisch von der Förderung aus und verweisen auf die Verantwortung der Eigentümer und die Pflichten der staatlichen Denkmalpflege. Zwar wurde mit dem Sonderförderprogramm des Bundes ein wirksames und vielfach hilfreiches Instrument zur Erhaltung historischer Orgeln geschaffen, das bestehende Programme wie das der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und des Landesamts für Denkmalpflege Hessen und die Möglichkeit der Einzelförderung z. B. durch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz ergänzt, aber hierbei handelt es sich ausschließlich um Maßnahmenförderungen am einzelnen Objekt. Ein vergleichbares Instrument zur Wissenschaftsförderung, das die Inventarisierung als notwendige Voraussetzung verantwortlicher Entschei- dungen über die Einzelmaßnahmen im Blick hat, ist zur Zeit nicht gegeben. Das Hauptdesiderat der Orgelforschung in Hessen besteht in der Fortführung der in den 1960er Jahren begonnenen und seit den späten 1980er Jahren ruhenden Inventarisierung. Zur Vollendung der Veröffentlichung der Quellen und Forschun- gen zur Orgelgeschichte des Mittelrheins von Franz Bösken und Hermann Fischer fehlt ein Band zum Gebiet des heutigen Main-Kinzig-Kreises – eine Arbeit, die beide planten und vorbereiteten, aber zu ihren Lebzeiten nicht abschließen konn- ten. Die Arbeiten von Gottfried Rehm im Osten des Bundeslandes bedürfen mehr als die anderen der inhaltlichen Korrektur. In den ehemals kurhessischen Gebieten 12 RESTAURIERUNGEN HISTORISCHER ORGELN IN HESSEN im Norden Hessens wäre eine zusammenführende Auswertung der zahlreicheren organologischen Beiträge der vergangenen Jahrzehnte wünschenswert, damit diese als wertvoller Beitrag in eine von Grund auf neu anzusetzende Inventari- sierung einfließen könnte. Erst auf der Grundlage der Kenntnis des historischen Bestands und seines Entstehens wird es möglich sein, die wichtigen Einflusslinien in den hessischen Orgelbau hinein und seine Wirkung auf andere Regionen aufschlussreicher zu beschreiben als dies heute möglich ist. Ein weiterer Beitrag zu einer umfassenden Darstellung der hessischen Orgelgeschichte wäre die Zusammenführung der Geschichten der in diesem Gebiet tätigen Orgelbauer. Mit etwa 30 bedeutenden Werkstattorten und -traditionen ist dies zwar kein kleines, aber doch überschau- bares Forschungsfeld, auf dem in der Vergangenheit bereits viele Erkenntnisse gewonnen wurden. Das Schließen der aufgezeigten Forschungslücken würde fast nahtlos zu der eingangs angedeuteten Gesamtsicht auf Hessen als Orgellandschaft führen. Damit wäre eine systematische Einordnung und Kontextualisierung des Beitrags des Orgelbaus zur Kunst- und Kulturgeschichte dieses Territoriums möglich. Die praktische Denkmalpflege erhielt damit eine wesentlich solidere Grundlage für ihr Wirken am einzelnen Objekt. Nicht zuletzt gingen von der Beschreibung der für die Region typischen Eigenschaften der Orgeln auch inspirierende Impulse für die künstlerische, musikalische und technische Gestaltung des zeitgenössischen Orgelbaus aus, die seine Kreativität anregen und seinen Beitrag zur Kulturland- schaft fördern könnte. Die Anerkennung der deutschen Orgelkultur als Kulturerbe der Menschheit in einer Zeit, in der die Orgelmusik an einem ihrer angestammten Orte – dem christlichen Gottesdienst – ebenso an Bedeutung verliert wie dieser in seinem gesellschaftlichen Kontext, kann als Aufruf zu einem verantwortlichen Umgang mit diesem Kulturgut verstanden werden. Sehr viel mehr als bisher wird es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten darauf ankommen, die Orgel als allge- meines Kulturgut zu erkennen und das öffentliche Interesse an seiner Erhaltung zu fördern. Dazu gehört wesentlich auch seine wissenschaftliche Betrachtung in Geschichte und Gegenwart.13 ORGELDENkmALpfLEGEIN HESSEN OrgeldenkmalpflegeinHessen VON BERNHARD BUCHSTAB 1Zu Ludwig Bickell vgl. Gerd Meyer, Orgelforscher, Sammler, Denkmalpfleger, Fotograf. Ludwig Bickell, dem ersten hessischen Bezirkskonservator zur Erinnerung, in: Denkmalpflege in Hessen 2/1999, S. 2–9. Elmar Brohl und Gerhard Menk (Hg.), Ludwig Bickell (1838–1901). Ein Denkmalpfleger der ersten Stunde (=Arbeitshefte des Landesamts für Denkmalpflege Hessen, Bd.7) Stuttgart 2005, hier insbesondere: Gerhard Aumüller und Eckhard Trinkaus, Der Orgelforscher, S. 372–388. Die Orgeldenkmalpflege ist ein kleiner, traditioneller Bereich der Bau- und Kunst- denkmalpflege – mithin der einzige, in dem sie sich konkret mit einem Musik- instrument beschäftigt. Orgeln sind in der Regel Teil der fest eingebauten Innen- ausstattung historischer Räume. In Kirchen gehören sie zu den raumprägenden Elementen wie Altar, Kanzel und Empore, und auch in Schul- und Konzertsälen haben sie oftmals eine besondere gestalterische Funktion. Das Interesse der Denkmalpflege richtete sich lange Zeit fast ausschließlich auf das Orgelgehäuse und den Orgelprospekt, also die sichtbaren Bestandteile des Instruments Orgel, und erst später nahm sie auch die klanglichen und technischen Elemente in den Blick. Die Geschichte der Orgeldenkmalpflege in Hessen beginnt mit dem Wirken von Ludwig Bickell (1838–1901), der ab dem Jahr 1892 erster Konservator für den preußischen Regierungsbezirk Kurhessen war. 1 Seine persönlichen Neigungen galten auch der Orgelbaukunst und Orgeldenkmalpflege. Bickell hatte die praktische Seite des Orgelbaus bei verschiedenen Aufenthalten in der Werkstatt Ratzmann in Gelnhausen kennengelernt und war darüber hinaus auch eine Zeit lang als Orgelrevisor tätig. Er entwickelte in zahlreichen Zeichnungen orgeltech- nische Details wie zeittypische Spielhilfen, Koppeln, Fortefunktionen, pneumati- sche Anlagen, Intonationshilfen an Pfeifen, oder auch Werkzeuge wie besondere Schraubenzieher für schwer zugängliche Stellen in der Orgel. Zu seiner denkmal- pflegerischen Arbeit gehörte auch die Sammlungstätigkeit, um Objekte vor dem Untergang zu bewahren und museal zu präsentieren. Davon kündet noch heute das im Jahr 1882 von ihm aus Friedlos/Wetter angekaufte und im Universitäts- museum im Marburger Schloss aufgestellte Renaissance-Positiv. 14 RESTAURIERUNGEN HISTORISCHER ORGELN IN HESSEN Der Hauptschwerpunkt von Bickells Tätigkeit im Orgelwesen lag – wie in seinem Schaffen insgesamt – im Bereich der Inventarisation. Dies macht auch heute noch den Wert im Umgang mit seinem Erbe aus. Die unzähligen zeichnerischen und fotografischen Aufnahmen von Orgeln sind ein wertvoller Schatz, dokumentieren sie doch auch manchen Kirchenraum und manches Instrument, die es heute nicht mehr gibt. Der eigentliche Grundstein der Orgeldenkmalpflege als wissenschaftlich-prak- tische Disziplin wurde im Jahr 1926 auf dem 19. Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz in Breslau gelegt. 2 Mit der Orgel als Themenschwerpunkt der Tagung wurde in Grundsatzreferaten der Fokus erstmals über die gestalterische Komponente hinaus auf die Orgel als Musikinstrument gerichtet. Insbesondere Willibald Gurlitt (1880–1963), Professor für Musikwissenschaft in Freiburg, war einer der führenden Köpfe innerhalb der Orgelbewegung und referierte in Breslau über Orgeln als Klangdenkmale. 3 In Hessen fand die Orgeldenkmalpflege in jener Zeit – eine Generation nach Bickells Tod – noch wenig Widerhall. Friedrich Bleibaum (1885–1974), ab 1926 Konservator für die Provinz Kurhessen und ab 1940 für die Provinz Hessen- Nassau, gestaltete in Zusammenarbeit mit Orgelwerkstätten einige Orgelpros- pekte, wie z. B. den des im Jahr 1933 errichteten, in Anlehnung an mittelalter- liche Schwalbennestorgeln entworfenen in der evangelischen Kirche Dörnberg (Habichtswald). 4 Während des Zweiten Weltkriegs gehörte es zu den Aufgaben Bleibaums, Orgeln nach deren Bedeutung zu klassifizieren, um so eine Bewertung zur Abgabe von Zinnpfeifen herbeizuführen. So konnte er bei vielen Instrumenten verhindern, dass Pfeifen entnommen und zu Kriegszwecken eingeschmolzen wurden. Die entsprechenden Karteikarten befinden sich noch in der Außenstelle Marburg des Landesamts für Denkmalpflege Hessen und sind ein wichtiges Zeit- dokument. Weiterführende Gedanken zur Orgeldenkmalpflege ab den 1950er Jahren wurden ausschließlich außerhalb der staatlichen Denkmalpflege entwickelt. So wurden die „Richtlinien zum Schutz alter wertvoller Orgeln“, die die im Jahr 1951 gegründete Gesellschaft der Orgelfreunde auf ihrer Tagung im Jahr 1957 in Weilheim an der 2Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz Breslau 1926. Tagungsbericht nebst Beiträgen zur Heimat- und Kunstgeschichte Breslaus und des schlesischen Landes, Berlin 1927. 3Willibald Gurlitt, Der musikalische Denkmalwert der alten Musikinstrumente, insbesondere der Orgeln, in: Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz Breslau 1926, wie Anm. 2, S. 89–94. 4Abbildung auf Seite 99.15 ORGELDENkmALpfLEGEIN HESSEN Teck als „Weilheimer Regulativ“ verabschiedete, zur Grundlage für den Umgang mit historischen Orgelwerken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 5 Diese Richtlinien waren freilich stark von den Vorstellungen der Orgelbewegung geprägt, gleichwohl aber wertvoll, da auch hier die Orgel als Gesamtkunstwerk gesehen und über die äußere Erscheinung hinaus mit der technischen Anlage und dem Klangapparat besonderer Wert auf das Orgelwerk gelegt wurde. Wegweisend und präziser waren schließlich die von dem damaligen Orgelsachver- ständigen der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Martin Balz, im Jahr 1976 veröffentlichten „Richtlinien für Arbeiten an Denkmalorgeln“. 6 Diese waren als praktische Handreichung für Orgelsachverständige und Orgelbauer zu verste- hen, hatten jedoch auch programmatischen Charakter. Sie wurden überregional beachtet und besitzen im Wesentlichen noch heute Gültigkeit. In Hessen erfuhr die Orgeldenkmalpflege einen neuen Aufschwung durch die Einführung des gemeinsamen Orgelrestaurierungsprogramms des Landesamts für Denkmalpflege und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen. Seit 2001 wurden jährlich zwischen sechs und neun Restaurierungen historischer Orgelwerke gefördert. So konnten bis zum Jahr 2023 172 Projekte fachlich begleitet und finanziell unterstützt werden. Da diese über ganz Hessen verteilt sind, bilden sie einen Querschnitt der Orgelbaugeschichte des Bundeslands. Sie geben einen Überblick über das Wirken lokaler, teilweise über mehrere Generatio- nen tätiger Orgelwerkstätten und verdeutlichen die Einflüsse von Werkstätten aus angrenzenden Regionen. Kurze Übersicht über die hessische Orgelgeschichte In Gottsbüren im Norden Hessens war seit dem 18. Jahrhundert die Werkstatt Heeren tätig. Sie wurde um 1780 von Johann Friedrich Euler durch Einheirat übernommen. Über sechs Generationen prägte die Werkstatt Euler von Gottsbüren, später von Hofgeismar aus den nordhessischen Raum. Seit 1995 firmiert die Werkstatt in Trendelburg-Deisel unter dem Namen Krawinkel. In Kassel war seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Orgelbauer- familie Wilhelm tätig. Der Gründer, Georg Peter Wilhelm, wurde 1771 zum Kasseler Hoforgelbauer ernannt. Die weit verzweigte Orgelbauerfamilie 5Walter Supper (Hg.), Richtlinien zum Schutze alter wertvoller Orgeln. Weilheimer Regulativ, Berlin 1958. Das Weilheimer Regulativ wurde im Jahr 1970 überarbeitet: Richtlinien zum Schutz denkmal- werter Orgeln, in: Ars Organi 18, Berlin 1970, S. 1424–1427. 6Richtlinien für Arbeiten an Denkmalorgeln, beschlossen von den Orgelsachverständigen der Evangeli- schen Kirche in Hessen und Nassau am 25. September 1974, in: Ars Organi 49, Berlin 1976, S. 2094ff..Next >